Peter Paul Wiplinger
Zur Gedanken - und Bilderwelt von Hermann Falke
Macht - Gewalt - Tod. Mythos - Geschichte. Natur - Kreatur - Kosmos. Zeit - Verfall - Vergänglichkeit. Einsamkeit - Vergessen - Erinnerung.
Das sind die Grundthemen des Denken und künstlerischen Schaffens von Hermann Falke, das sind die Pfeiler, auf denen seine Gedanken- und Bilderwelt aufgebaut ist.
Die Majestät gloriosa, das Inferno humanum und der Dies irae liegen in Falkes Geschichts- und Menschenbild nahe beisammen, ja sind untrennbar miteinander verbunden. Die Zeit hat hier eine andere Dimension als die der Geschichte, eingegrenzt durch historische Faktizität, als die der Epoche, als die der Gesellschaft, als die des begrenzten individuellen Lebens, der eigenen physischen und mentalen Existenz. Das Vergessen und das Erinnern haben einen anderen Ursprung als den uns geläufigen. Das Gedächtnis reicht in die Zukunft hinein, erstreckt sich vom Mythos bis hin zu visionären Schau. Das fatale Schicksal des Menschen liegt im Vergessen. Der Tod kennt kein Erinnern. „Die Kunst braucht das Erinnern“, sagt Falke. Sie muss es dem Tod entreißen, im Kampf gegen die Anonymität, in die der einzelne im Tod fällt, in die die Geschichte immer wieder sich verliert. Das Gedächtnis der Ewigkeit ist dem Gesetz der Sterblichkeit und Vergänglichkeit immer wieder entgegenzusetzen, im Interesse des Lebens, im Interesse der Wahrheit. Das ist die Aufgabe der Kunst. Das ist die Aufgabe des Künstlers.
Die Farbe Rot dominiert in diesen Bildern Hermann Falkes, die sich mit diesen Themen befassen. Die Farbe Rot gebrochen durch Schwarz. Rot als die Farbe des Blutes, als Zeichen, als Metapher des Lebens und des Todes zugleich. Rot und Schwarz sind die Farben der Majestäten: der Könige und der Kardinäle, der Richter und Henker. Rot ist die Farbe des Festes, des Ruhmes, der Macht. Schwarz ist die Farbe des Todes, der Trauer, der Gewalt, der Zerstörung. In der Liturgie der katholischen Kirche, in dieser Liturgie des Todes, sind beide verbunden, verschmolzen, vereint. Macht und Tod gehören seit jeher und für immer zusammen. Sie sind die Feinde des Lebens, die Feinde des Menschen.
Falke begibt sich in und mit seinen Bildern auf „Expeditionen ins Unbekannte und Vergessene“ (Thomas Kemper). Er kehrt zurück zu den Ursprüngen der abendländischen Geschichte und Kultur, zum Mythos der Griechen, in das „Haus der Atriden“, wo Atreus, der Enkel von Tantalos und Vater von Agamemnon und Menelaos, seinem Bruder Thyestes dessen eigene Söhne bei einem „Versöhnungsfest“ zum Mahl vorsetzt. Macht und Gewalt, Mord und Totschlag, Inzest und Lüge und das dadurch bestimmte Schicksal der Menschen nehmen von diesem Ursprung aus ihren Ausgang und ihren weiteren Verlauf; aber nicht im Rahmen einer Zweidimensionalität der Geschichte, auf der Basis des Kausalitätsprinzips von Ursache und Wirkung, sondern unter dem bestimmenden Vorzeichen von Göttlichem und Dämonischem zugleich, das sich in der Geschichte und in den herausragenden historischen Personen, die die Geschichte machen, manifestiert.
Falke kehrt zurück in das Mittelalter, zu den Wegzeichen unserer christlich- abendländischen Kultur und Geschichte, dorthin, wo der Weg bis herauf in das Heute entscheidend beeinflusst oder bestimmt worden ist. Er zeichnet und malt die großen historischen Figuren eines Philipp II. oder die des Papstes Bonifazius VIII., dessen unselige „Zweischwerter-These“, die er am 18. November 1302 in der berühmten Bulle „Unam Sanktam“ verkündet, als fundamentale Kirchenlehre nicht nur ihren Eingang in das katholische Glaubensbekenntnis findet, sondern die darüber hinaus auch das weitere Verhältnis von kirchlicher und weltlicher Macht in Europa und in den von Europa aus kolonialisierten Gebieten auf der ganzen Erde bestimmt. Falke tastet sich vor zu den dunkelsten Punkten und zu den brennendsten und schmerzhaftesten Wunden dieser christlich-abendländischen Kultur und Geschichte, er dringt ein in die Verliese, wo die von der Heiligen Inquisition der weltlichen Macht Ausgelieferten, Entrechteten, Entwürdigten, Gequälten und Gefolterten auf ihre Verurteilung und Hinrichtung im Namen und zur Wahrung des göttlichen Rechtes warten. Er zeigt diese Inquisition als das, was sie ist: nicht eine innerkirchliche Einrichtung zur Wahrung des Glaubens, sondern ein unkontrolliertes und unkontrollierbares Schreckensinstrument einer Einheit von absoluter kirchlicher und weltlicher Macht zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit, ein politisches Systeminstrument zur radikalen Vernichtung aller sich dieser Macht in den Weg stellenden Menschen.
Der Weg von der Vernichtung des einzelnen Menschen bis hin zu der von Angehörigen anderer Völker und Religionsgemeinschaften – 1480 wurde die Inquisition als staatliches Instrument zu Bekämpfung des Judentums und des Islam in Spanien eingesetzt und 1542 war die Inquisition die furchtbarste Waffe der Gegenreformation – war hier nicht nur vorgezeichnet, sondern wurde auch ohne jede religiöse oder politische Skrupel beschritten. Die ideologischen Ansätze der nationalsozialistischen Ideologie zur radikalen Bekämpfung anders Denkender und anders Gearteter, die ihren infernalischen Höhepunkt im Holocaust fand, scheint auch hier manche Wurzel zu haben. Und das Wiederaufleben des Fundamentalismus in verschiedenen Religionen heute bedeutet auch eine Rückkehr zu diesen Wurzeln.
Falke zeichnet die Täter und Opfer. Die großen historischen Gestalten, überdimensioniert in ihrer Erscheinung, aufgebläht von der Rolle, die sie in der Geschichte spielen, das Pompöse und Unnahbare ihrer Haltung, in der der Mensch zur Figur des Welttheaters wird. Er zeichnet die Opfer, den von der Macht missbrauchten, erniedrigten, gequälten, zerbrechenden, zerbrochenen Menschen, in seinem Leiden, in seiner Einsamkeit, in seinem Alleinsein, in seinem Alleingelassensein. Er zeichnet den Repräsentanten, den Übermenschen – nicht nur der Gesellschaft, sondern als möglichen und immer wieder angestrebten Prototyp der Menschheit schlechthin. Und den Ausgestoßenen, den aller Rechte und jeden Schutzes entkleideten Menschen, den nackten, blutenden Körper, den leblosen Leichnam. Beide Täter und Opfer, Machthaber und Machtmissbrauchter, haben eines gemeinsam: die große Einsamkeit und das Schweigen, das sie in jenen Augenblick umgibt, in denen jeder aus seinem ihn umgebenden historischen Machtentfaltung – und Gewaltanwendung, in jenen der größten Erniedrigung. In diesen Augenblicken fallen die Anonymität der Macht und die Anonymität des Todes zu einem zusammen. An diesem Punkt erstarren das Gesicht des Mächtigen und das Gesicht des Sterbenden zur Maske, in der kein Leben mehr ist. Das sind die Macht- und Todesbilder Hermann Falkes.
Bis zum „Eingang zur Gaskammer“ begleitet er das Opfer, das Opfer Mensch als das Opfer der Macht und Gewalt, als Mitleidender auf seinem letzten Weg. Und Falkes Anspruch „Kunst bedarf der Erinnerung“ wird angesichts dieser – seiner Bilder und angesichts dieser Menschen- und Geschichtsbilder zu einem Aufruf ohne jede Einschränkung: Der Mensch bedarf der Erinnerung! Der Mensch muss sich erinnern – bis in die Zukunft hinein.
Folder: Der Tod kennt kein Erinnern, Falke-Galerie Loibach, 1989