Thomas Kemper
Auszüge aus Interviews mit Hermann Falke
TK: Herr Falke, für den Außenstehenden wie auch für den Kenner Ihrer Werke besteht der Eindruck, Sie würden sich und Ihre Arbeiten der Öffentlichkeit bewusst entziehen wollen. Ist dieser Eindruck zutreffend? Sind Sie ein Menschenfeind?
HF: Nein, sicherlich nicht! (lacht) Aber dennoch gilt, was schon Gottfried Benn vermerkt: „Tiere, die Perlen bilden, sind verschlossen.“
TK: In einer Zeit gesteigerter Öffentlichkeit nimmt sich eine solche Position allerdings reichlich anachronistisch aus!
HF: Nun gut, das nehme ich in Kauf. Mir liegt nichts daran, die auf vielen Gebieten zu beobachtende, mich selbst betreffende Entwicklung hin zum völlig durchsichtigen Menschen durch - sagen wir einmal - Selbstausstellung noch zu unterstützen oder gar zu steigern. Die dem Künstler heutzutage oftmals abgeforderte Freilegung seines Innersten und Eigensten - ich erinnere nur an die publizistischen Selbstentblößungen vieler zeitgenössischer Künstlerkollegen - bedrohen denn auch eher den noch verbliebenen Restbestand des Humanen, als das sie ihn beschützen. Ihre Frage nach der Menschenfeindlichkeit wäre dementsprechend an eine völlig andere Adresse weiterzuleiten.
TK: Dass Ihre Arbeiten veröffentlicht werden, ist Ihnen trotzdem wichtig?
HF: Gestatten Sie mir eine Gegenfrage, die das vermeintlich Selbstverständliche Ihrer Frage vielleicht zu hinterfragen hilft. Haben Sie sich schon einmal ernsthaft mit Fragen des mittelalterlichen Kirchenbaues auseinandergesetzt?
TK: Nein, nicht eigentlich.
HF: Nun, ich für meine Person bin unendlich beeindruckt von dem merkwürdigen Umstand, dass an vielen dieser kirchlichen Bauwerke selbst bedeutendste Skulpturen - über deren Existenz bis in das katalogisierende und systematisierende XIX. Jahrhundert hinein völliges Nichtwissen herrschte - dem Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar sind. Wenngleich ich die tieferen metaphysischen Gründe für diese absichtsvolle Verborgenheit nicht verkenne, so nehme ich sie auch als Hinweis darauf, dass das absolute Gewicht, das seit geraumer Zeit auf dem Ausstellungswert der Werke und spätestens seit der dadaistischen Revolte auch auf dem Ausstellungwert der Artisten liegt, nicht so selbstverständlich ist wie manche Apologeten des zeitgenössischen Kunstmarktes es uns glauben lassen wollen.
Um Ihre Frage zu beantworten: Ausstellungen sind mir lieb und wichtig, schaffen Sie doch die Voraussetzung dafür, dass irgendwann einmal - und mir ist es in der Tat gleichgültig, ob bald, ob erst in fünfzig Jahren - das einzelne Werk jenen idealen Betrachter findet, der sich als in ihm gemeint erkennt. Sie sehen, ich rechne in gänzlich anderen Zeitkategorien als den heute üblichen.
TK: Dieses andere Zeitbewusstsein, von dem Sie sprechen, scheint sich auch in Ihren Werken zu artikulieren. „Ich lebe buchstäblich davon, dass ich bereits in allen früheren Jahrhunderten gelebt habe; sonst wär`s ja auf diesem einwandfrei irrsinnigen Planeten nicht auszuhalten. „Könnte diese Äußerung Hans Wollschlägers nicht ein Analogon zu manchen Ihrer Arbeiten sein?
HF: Ohne den von Ihnen zitierten Autor näher zu kennen - einzig Wollschlägers „Bewaffnete Wallfahrten gen Jerusalem“ habe ich mir vor Jahr und Tag zum verborgenen Anschauen besorgt -, so frappiert mich doch die in der Notiz niedergelegte Erfahrung als etwas mir durch und durch Vertrautes. Das Eingedenken - auf welches das Wollschläger-Zitat hinzuweisen scheint - ist für den um die Gefährdung der modernen Existenz wissenden Künstler ein unbedingtes Muss. Das Eingedenken gilt dem im Verlauf der Geschichte sich anhäufenden Leiden von Natur und Subjektivität. Es gilt auch den vergessenen, verdrängten und - entschuldigen Sie die komische Wendung - weg-zivilisierten Möglichkeiten des Menschen. Die Kunst - nicht Geschichtsschreibung und Literatur allein - bedarf der Erinnerung…
TK: …die sich in Ihren Arbeiten dann auch vergleichsweise extrem niederschlägt. Sie zeigen Grenzzustände des Kreatürlichen: das „Fest des Körpers“ im Tanz, im Ein-klang mit der Natur - und den leidenden, verfallenen, den toten.
HF: Sehen Sie, allein die Tatsache, dass in meinem Schaffen unter anderem auch das Thema Tod einen genau bestimmbaren Ort besitzt, grenzt mich in gewisser Hinsicht aus der Zeitgenossenschaft aus, kommt einer Verletzung der kulturellen Norm gleich: ist doch die Herausdrängung der Toten aus dem Gesichtskreis der Lebenden eine der größten Verdrängungsleistungen in der Geschichte der modernen Zivilisation. Der Tod - vor nicht allzu langer Zeit ein Ereignis, das selbst den Tagesrhythmus des einzelnen wie der Gemeinschaft mitdiktierte - ist von der Gesellschaft ausgebürgert worden. „Die Gesellschaft legt keine Pause mehr ein. Das Verschwinden eines einzelnen unterbricht nicht mehr ihren kontinuierlichen Gang. Das Leben der Großstadt wirkt so, als ob niemand mehr stürbe.“(Ph. Aries) Das ad plures ire der Alten nehme ich ernst: den Hauch der Luft zu fassen, der um das Frühere gewesen ist.
TK: Diese Intention erstreckt sich dann selbst auf jene Arbeiten - wie zum Beispiel einem Großteil der Aquarelle -, in denen sich vergessene Möglichkeiten von Subjektivität auftun: Entgrenzung, Spontanität, augenblickliche Seligkeit, gesteigerte Leichtigkeit. Mit Figuren gleichsam ohne Schwerpunkt, ohne ein schweres Ich, das vielmehr im Taumel unendlicher Bewegtheiten, Entgrenzungen und Berührungen seinen Untergang erfährt.
HF: D`accord.
Folder: „Auszüge aus Interviews mit Hermann Falke“, Hermann Falke - „Alte Mühle“ - Schmallenberg, 1983