D. E. Sattler
Tod und Tanz
Einige lebten, fast unbemerkt, und sind schon wieder gegangen, die haben nicht vom Taumelkelch des Vergessens getrunken. Wie fremde Boten, in einer dem Untergang geweihten Stadt, waren sie einfach da, sich selbst in ihrer Fremdheit ein Wunder. Sie hielten fest, was die Leichtfertigen losgelassen hatten. Sie gruben die verschütteten Brunnen der Vergangenheit wieder auf. Sie erinnerten sich des zukünftigen Tages, an welchem der gegenwärtige vergangen sein würde. Solange sie dies taten, bestand die verdorbene Stadt, die vom Grund der Zeit sich gelöst, die sich losgesagt hatte von ihren Voreltern und Enkeln. In ihnen hielt sich noch das schwankende Gleichgewicht der Waage. Solange sie lebten, senkte sich das Todeslos noch nicht. In ihnen lebte noch der innige Zusammenhang, jener geistige Sinn, jenes atmende Lebensgefühl, ohne den das geängstigte, vergeblich vorsorgende, sich selbst entfremdete Leben, das in seiner Selbstgewissheit selbstvergessene, sich selbst in seine Eigennützigkeit schädlich gewordene Leben dem Verderben schon ausgeliefert hat. Sie allein hatten sich über die allgemeine Not des Vergessens erhoben. In ihrem wachen Erinnern war Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch beieinander, war die triadische Zeit der Vergeblichkeit entrissen. Sie lebten, wie alle anderen auch, aber sie beugten sich nicht der selbstermächtigten, uneingeschränkten Tyrannei des gegenwärtigen Tags. Des Tags, der darum sich selbst verurteilt, weil er den vorhergegangenen und den hochkommenden Tag nicht gelten lässt, weil er das Ganze der Zeit aus seinem Bewusstsein ausschließt.
Wächter über vergessene Zeit. Ein solcher war Hermann Falke, der Maler. Er kannte den Tod als Meister in Deutschland und wußte, worin seine Meisterschaft besteht: im Töten und im Vergessen. Ihn hatte er fest ins Auge gefasst, wie sein heimlicher Bruder, der scharfsichtige Vogel, und so seine Macht gebannt. Er gehörte zu den wenigen, die das Land entsühnten. Dann schüttelte er den Staub von den Füßen und ging mit den anderen davon. Dass sie vorzeitig starben, widerlegt sie nicht. Es bestürzt und mahnt nur die Zurückgebliebenen. So treten sie vor uns hin, im heilsamen Schrecken der Nacht, und erinnern uns mit einem Wort oder Blick an das vergessene Erinnern, dass uns der Tod nicht bei Lebzeiten ereile.
Dass der Mensch sich seines Geschickes erinnern und für sein Leben dankbar sein könne, hat Friedrich Hölderlin in einem Fragment philosophischer Briefe als Grundzug des Menschlichen bestimmt. Hermann Falke dürfte diese zentrale, gleichwohl versteckte Stelle kaum gelesen haben. Dennoch war eben dieses Wissen sein Eigentum. Nichts illuminiert das besser, als diese, zum zweiten Jahrestag seines Todes, im Druck vorgelegten Blätter. Ja, sie fügen jener doppelten Bestimmung Hölderlins eine Wahrheit hinzu, die aus ihr selbst nicht unmittelbar herauszulesen war: das Gesetz von der coincidentia oppositorum; jene künstlerische Mechanik, der das Schwierigste gelingt: die Vereinigung der sonst immer sich ausschließenden Gegensätze. Deswegen könnte für diesen ersten Katalog post mortem kein glücklicherer Titel gefunden werden, als der von Renate Falke gewählte. Die tiefste Trauer schließt die höchste Freude nicht aus. Im Gegenteil, die eine bedingt die andere. Je tiefer und mitfühlender die Erinnerung des gemeinsamen Geschicks, um so höher und lustvoller die daraus entspringende Dankbarkeit für ein Leben, über das der Tod keine Macht hat. Orkus und Elysium versöhnt nebeneinander. Die Bilder des Todes, des qualvollen Sterbens nicht isoliert. Kein memento mori, das die Erinnerung des Todes auch auf den Raum ausdehnt, der allein dem Leben gehört. Der Tod nicht als Schreckbild, nicht als Mittel, das Lebensgefühl zu dämpfen oder gar im Enthusiasmus der Askese abzutöten, sondern als der dunkle Grund, vor dem das kristallklare, göttlichgeschöpfte Leben umso heller glänzt. Das Maß des Mit- und Vorgefühls, das Hermann Falke, nach seinen eigenen Worten, schon im lebendigsten Leben aus der Zeitgenossenschaft in die nahe, zugleich unendlich entfernte Sphäre der Toten riss, war auch das Maß seiner visionär gesteigerten Lebensfreude. Auch sie entfernte ihn von dieser immer noch grünenden, beschädigten, gefährdeten Erde. Als schauten die brechenden Augen der Sterbenden (die der Zwölfjährige in einem Kriegslazarett noch gesehen, ein Lebenlang behalten und für den kostbaren Augenblick schwerelosester Niederschrift aufbewahrt hatte) die Neue Erde und in ihr sich selbst als neuerschaffene Menschen. Kein Zweifel: an diesem Ufer begegnen sich Tod und Tanz.
Wie verwehende Fahnen winken sie sich zu, Körper, Gesichter, das fahle Totenhaupt und das grüne Gras, dithyrambischer Tanz und das Kreuz. Das kalkulierte Ineinander der wasserlöslichen Farben in höchster Meisterschaft, zuweilen in Formaten, die die gewohnten Grenzen dieser Malweise in großem Wurf überfliegen. Ausdrucksstark und zart in einem. Perlmutt die Farbe der leidend Verklärten. Mit ihnen verbrüdern sich Andreas Schlüters sterbende Krieger am Berliner Zeughaus. Ich habe keinen ehrenderen Vergleich.
Katalog: „Hermann Falke TOD UND TANZ“, Galerie Alte Mühle Schmallenberg und Falke-Galerie Loibach, 1988