Renate Falke
Unser Leben ist ein Schatten
„In erster Linie soll (…) der Künstler die Lage zu ändern versuchen, dadurch, dass er seine Pflicht der Kunst und also auch sich gegenüber anerkennt und sich nicht als Herr der Lage betrachtet, sondern als Diener höherer Zwecke, dessen Pflichten präzis, groß und heilig sind. Er muss sich erziehen und vertiefen in die eigene Seele, diese eigene Seele vorerst pflegen und entwickeln, damit sein äußeres Talent etwas zu bekleiden hat und nicht, wie der verlorene Handschuh von einer unbekannten Hand, ein leerer zweckloser Schein einer Hand ist.“ Alles kursiv geschriebene, Wassily Kandinsky „Über das Geistige in der Kunst“, 1912, 8 Aufl., Bern 1965 (Benteli)
Den wesentlichen, endgültigen letzten Arbeiten aus dem Nachlass von Hermann ist die diesjährige Sommerausstellung der Loibacher Galerie-Galerija Falke gewidmet. Diese Bilder entstanden im Zeitraum von Januar bis Mai 1986. Im Februar hatte Hermann den Proustschen Fragebogen ernsthaft und nachdenklich beantwortet. Es war ein äußerst dramatischer Zeitraum in Hermanns Leben. Denn bereits Ende des Jahres 1985 traten immer häufiger Angina pektoris-Anfälle auf, die ihn im Januar dazu veranlassten, sich im Kantonsspital St. Gallen einer kardiologischen Untersuchung zu unterziehen. Die Diagnose war eindeutig und macht eine Bypass-Operation im Klinikum Aachen unumgänglich.
So hatte plötzlich die oft gehörte Chormotette Johann Sebastian Bachs „Unser Leben ist ein Schatten“ für Hermann spürbare Realität bekommen.
Auf eine geheimnisvolle, rätselhaft, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk „aus dem Künstler“. Von ihm losgelöst bekommt es ein selbständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem selbstständigen, geistig atmenden Subjekt, welches ein Wesen ist.“
Noch vor der Operation stellte Hermann zahlreiche Aquarelle auf altem Papier fertig. Diese ordnete er, wie er es bereits bei einer Ausstellung im November / Dezember 1985 gemacht hatte, zu je zwei bis drei Arbeiten in einem Passepartout altarbildartig neben- oder übereinander an. Als hätte Herman geahnt, dass er sich nun in seiner letzten Lebens- und Schaffensphase befand, führte er bei seinen Bildern eine Art Zeitraster ein, das mit römisch durchnummerierten Linien die Monate darstellt. Außerdem fügte er seiner Signatur häufig den ausgeschriebenen Monatsnamen hinzu. Die Pinselführung verlor die Ruhe und Feinheit der frühen achtziger Jahre. Bei der Farbwahl herrschten dunkle Blau-, Braun- und Rottöne vor. Die Bilder wirken fragmenthaft, sie scheinen huschende, fast in Auflösung begriffene Schattengestalten darzustellen.
Und immer zu der Zeit, wo die menschliche Seele stärkeres Leben führt, wird auch die Kunst lebendiger, da die Seele und Kunst in einer Verbindung von wechselseitiger Wirkung und Vervollkommnung stehen.“
Hermann erlebt das Wandeln zwischen Leben und Tod ganz bewusst. Die Narkose, die Operation, die Öffnung des Brustkorbs, die Entnahme der Beinvenen, das Arbeiten der Herz-Lungenmaschine, die Intensivstation bestimmen seine Gespräche und Bilder. So schuf er schon im Aachener Klinikum Dokumente seiner Empfindungen. Intensive dunkle Farben, meist blau, violett und rot, spiegeln die erlebte Bedrohung und Auflösung des Körpers wider. In einem kleinen, unscheinbaren Skizzenbuch erfasste er in acht Aquarellen seine Zustands- und Sehnsuchtswelt, die bestimmt war vom allmählichen Wiedergewinnen der eigenen Kraft, dem Wiedererstehen und dem sich Wiederaufrichten.
Ein Aufenthalt in der Berleburger Herz-Kreislaufklinik zwang Herman zu therapeutischen Übungen. Er, der es immer geliebt hatte, im Sauerland oder in den Alpen Schi zu laufen, ließ medizinisch verordnete Tätigkeiten wie Schwimmen, Laufen , Turnen und Kneippen nur mit Unmut über sich ergehen.
In der knappen freien Zeit aquarellierte er auch während der Kur, beschränkt auf ein kleines Zimmer und den Malblock von 36 x 48 cm. Nur die Wochenenden, an denen er sich zu Hause aufhalten durfte, ermöglichten ihm großformatige Arbeiten. So begann er auf 200 x 140 cm großer, finnischer Holzpappe seine beiden letzten Acrylbilder. Die Titel der Aquarelle und Tuschzeichnungen die er zu dieser Zeit schuf, interpretieren Hermanns Zustand sehr deutlich: „Mein Herz ist bereit“, „Atropos mit dem Lebensfaden“, „Stürzen, Jagen, Scherzen, Märzen 1986“.
Mitte April kehrte er endlich wieder in seine Schmallenberger Mühle heim, kehrte zurück in die Welt der Musik und Meditation. Doch das atomare Unglück von Tschernobyl verfinsterte neuerlich sein Gemüt. Die empfundene Bedrohung offenbart sich im 8-teiligen Zyklus „Media in vita“.
Eine tiefgreifende Ahnung um die letzten Dinge lag im Raum. Gleichermaßen erschüttert und hoffnungsvoll erlebte ich mit Hermann diese Zeit.
Gezeichnet von seiner Krankheit vollendete er mit äußerster Kraftanstrengung die letzten Werke: „Liebevolle Annäherung an Gott“ und „Wo gehen wir hin? - Immer nach Hause.“
Katalog: „Hermann Falke Unser Leben ist ein Schatten“, Galerie-Galerija Falke, Loibach / Libuče, 1997